SEXUALITÄT GOES EVOLUTION

Ein Text von Tanja Spinger

Recherchetag No. 1 in einer 10. Klasse in Bremerhaven. Wir stehen am Anfang unserer Recherchewoche: Vor uns liegen 5 Tage, in denen wir uns mit Schulklassen, mit Sexexpert*innen von pro familia, einer Sexualtherapeutin und mit diversen Jugendlichen aus Bremerhaven in Einzelgesprächen über das heißeste Thema der Menschheit unterhalten wollen: What is love? fragen wir uns und hoffen voller Neugier, dieses Thema näher zu erkunden mit unseren Gesprächspartner*innen.

Am Montag früh um 8:30 Uhr sind wir also auf dem Weg zu unserem ersten Besuch einer Schulklasse. Mit dabei sind JUB!- Schauspieler Luca Hämmerle und Theaterpädagogin Elisa Weiß sowie FSJ-lerin Emely Ruboks, die uns mit dem Schreiben eines Protokolls supporten wird.
Ich bin gespannt, ob wir mit den Schüler*innen zwischen 15 und 17 Jahren ins Gespräch kommen werden und ob sie bereit sind, mit uns offen über ein so intimes Thema zu sprechen.


Nach einer herzlichen Begrüßung und einleitenden Worten von unserer langjährigen Kontaktlehrerin sind nun die Jugendlichen dran. Wir beginnen mit einem einfachen warm up-Spiel, bei dem wir verschiedene Thesen in den Raum stellen und die Workshopteilnehmer*innen sich auf einer Skala von 1 -10 den für sie richtigen Platz im Raum suchen sollen: Stehen sie ganz links, stimmen sie der Aussage voll zu, stehen sie ganz rechts, gar nicht. So kommen wir ziemlich schnell auf die Essenz der im Raum stehenden Meinungen: denn zu unserer Überraschung wird in den ersten Worten „Sexualität“ gleich auf das Triebhafte des Menschen herunter gebrochen. Sex sei nun mal dazu da, um sich fortzupflanzen. So weit so gut.
Doch hinter dieser evolutionsbiologischen Sichtweise verbirgt sich noch mehr: Im Sex ginge es um den Spaß des Mannes, der müsse nun mal dringend auf seinen Spaß kommen und das so gut wie möglich und so schnell wie nötig. Hallo? Da klingeln die ersten Alarmglocken in uns. Geht es denn da gar nicht um die Bedürfnisse der Frauen, fragen wir vorsichtig in den Raum?
Schließlich ist die Hälfte des Klassenzimmers vom weiblichen Geschlecht belagert.
Naja, nein, eher nicht, heißt es da vom Wortführer aus dem Jungslager. Die Frau solle sich schließlich fügen. Hoppla! Gibt es denn da gar keine Widerrede? Doch zum Glück melden sich auch zaghaft erste Stimmen vom anderen Lager. Dass eine Frau schließlich auch einen Orgasmus erleben könne usw. verlauten dann doch einige. Um also auch die erfüllte Sexualität der Frau in den Fokus zu nehmen, muss hier im Raum unter den 15 – 17-Jährigen also erst mal das Eis gebrochen werden. Immerhin haben sie schon mal davon gehört. Dennoch: Im Lauf aller weiteren Thesen und anschließenden Diskussionen bleibt diese Meinung omnipräsent im Raum kleben: Sex und Liebe bräuchten die Menschen vor allem zum Trieberhalt und der Mann sei das klar überlegene Geschlecht. Uuups. Damit hatten wir jetzt nicht gerechnet am frühen Montagmorgen in einem Klassenzimmer in Grünhöfte.

Gehören Liebe und Sex denn zusammen? Schnell heißt es, Sex sei triebgesteuert. Und deshalb habe Sex auch nichts mit Liebe zu tun. Ein Mann könne eben einfach eine Frau schwängern und dann gleich weiter zur nächsten gehen. So einfach sei das von der Natur aus angelegt. Aber es gebe eben auch Liebe ohne Sex. Dass es das auch geben könnte, scheint die erste neue Erkenntnis dieses Morgens im Klassenraum zu sein.
Gemeinsam fragen wir uns, ob die Weiterentwicklung der menschlichen Evolution heißen könnte, dass die Menschen irgendwann nur noch Liebe ohne Sex hätten? Könnte Sex eventuell sogar irgendwann überflüssig werden, wenn Menschen lange zusammen sind und wenn sich Fortpflanzung durch Reagenzgläser steuern lässt? Auch wenn wir die Frage nicht wirklich beantworten können, bleibt in unseren Köpfen ein interessantes Gedankenspiel darüber hängen, wohin Liebe und Sexualität in der Menschheit zukünftig weiter hin steuern könnte. Innerlich merke ich mir, dass das unbedingt eine Szene in unserer Stückentwicklung werden sollte. Es ist allemal spannender sich dem Gedankenspiel der Zukunft hinzugeben statt in der Ursuppe von unromantischer Evolutionsbiologie weiter zu löffeln.

Im Klassenraum widmen wir uns neuen Fragen:
Ist die Häufigkeit des Sex in einer Beziehung ein Indikator für die Stärke der Liebe?
Die männliche Antwort heißt eindeutig: ja, weil das Begehren groß sei. Die weibliche Perspektive meint, dass Sex nicht Ausdruck der Liebesintensität sei. Dient denn dann die Liebe an sich rein der Fortpflanzung?
Wenn die Fortpflanzungsinstinkte gestillt seien, dann sei man auch glücklich, lässt die streng evolutionäre logische Sichtweise im Raum wieder verlauten.
Zusammen Spaß haben, miteinander gemeinsame Momente teilen, jemanden an seiner Seite haben, der einen unterstützt, der einen versteht, eben einfach erfüllte Zweisamkeit seien aber Werte, die jenseits des Fortpflanzungstriebs wichtig seien und dazu führen, dass man sich an jemanden bindet. Immerhin, ich atme auf, dass es noch mehr Bedeutung der Sexualität zu geben scheint als der reine Fortpflanzungstrieb.
Die Liebe wird dann aber gleich schon wieder als ein von der Natur erfundener „Motor“ im Menschen analysiert, der dazu diene die Sexualität anzukurbeln: „Die Liebe ist der Grund, um sich an ein Familienmitglied außerhalb der eigenen Familie zu binden und sich zu vermischen.“
Also Fazit: Hormone und Fortpflanzungstrieb bilden hier im Raum eine große Basis, wenn man versucht über Liebe und Sexualität zu sprechen.
Dass diese nüchterne Betrachtungsweise hoffentlich nur eine und bei weitem nicht die einzige Erkenntnis über diese zwei großen Erfahrungsbereiche menschlichen Daseins sind, ist die Hoffnung, die ich still in mir an diesem ersten Recherchemorgen aus dem Klassenzimmer mitnehme!
Vielleicht sollten wir öfter mal wieder in den Apfel der Erkenntnis beißen?
Tanja Spinger, 10. November 2020

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