SEXUELLE IDENTITÄT: EINE REISE MIT MEHR ALS EINEM ZWISCHENSTOP

Ein Text von Theaterpädagogin Elisa Weiß

Ein Tag im November. Vor der Tür des JUB! empfange ich einen jungen Mann, 15 Jahre. Innerhalb der nächsten Stunde werden das kleine „Liebes- und Sexualforscher“ -Team des JUB! und ich in die wundersame Welt eines Menschen mitgenommen, um zu erfahren, was wir oft nur von den Wenigsten erfahren – nämlich wie sie ihre Liebe und Sexualität erleben. Was für ein Privileg für uns!

Der Sprung ins kalte Wasser…

Der junge Mann, den ich im Folgenden „N.“ nennen werde, wirkt schüchtern und nervös und für einen Moment befürchte ich, dass diesmal das Wunder der Mitteilung für diesen intimsten aller Erfahrungsbereiche nicht gelingen wird. Ich versetze mich selbst in seine Lage und muss zugeben, dass ich in diesem Alter niemals den Mut aufgebracht hätte, mit einer wildfremden Person über diese Themen zu reden. Ich überprüfe meine Vertrauenswürdigkeit und versuche, möglichst locker zu wirken. Wir sitzen am Tisch und der Sprung ins kalte Wasser lässt sich nicht mehr hinauszögern.

…wird zu einem warmen Bad

Sogleich bemerke ich aber, dass ich mir völlig umsonst Sorgen gemacht habe: mein Gegenüber entspannt sich mit dem ersten Satz, mit dem er sagt, dass er unser Gespräch dazu nutzen möchte über Fragen nachzudenken, die ihm sonst nicht gestellt werden. Großartig! denke ich, denn durch Fragen einem Menschen dazu zu verhelfen, sich besser kennen zu lernen, befreit auch mich. Vielleicht ist es hierzu sogar hilfreich, dass wir einander Fremde sind.

Google weiß nicht alles

Im nächsten Satz erklärt N., dass er keine ungeklärten Fragen zum Thema hat. Das Internet leiste ganze Arbeit. Wie jetzt? Verdutzte Stille unter dem Team des JUB! droht sich breit zu machen. Die rettende Frage: „Wie ist es verliebt zu sein? – dass kann man doch nicht googeln, das ist doch für jeden anders?“ Ja, das stimmt, bekennt N.. Ich bin erleichtert.

Aussehen zieht an – Charakter hält fest

Was zeichnet das Gefühl verliebt zu sein aus? fragen wir. Antwort: „Dem Alltag zu entfliehen.“ Liebe als Strategie der Weltflucht? Oder ist sie die poetische Dimension, ohne die wir eben doch nicht leben können? Doch bevor wir uns in den philosophischen Tiefen dieser Frage verlieren können, gibt uns ein Satz von N. unvermittelt Klarheit: „Aussehen zieht an, Charakter hält fest“. Wir schreiben mit. Ich stecke den Satz unauffällig in meine Tasche für die private Anwendung.

Jenseits von schwarz oder weiß

Eine Sache müssten wir noch vorab klären: „Stehst du auf Mädchen oder Jungs?“ Mit großer Gelassenheit erzählt N., dass er sich in einer „Findungsphase“ befindet. Was bedeutet das? – N. erklärt, dass er sich manchmal von dem einen, dann vom anderen Geschlecht angezogen fühle. Auf der Reise sein, suchen – dass sei der Status seiner sexuellen Identität. Ich kann nicht anders als zu denken, wie schön ich das finde: sich im Dazwischen-Sein, jenseits von schwarz oder weiß zu Hause fühlen.  Klingt nach großer Freiheit, denke ich bewundernd. Ob ihm der allgemeine gesellschaftliche Druck zur sexuellen Orientierung zu einer bestimmten Norm Stress bereite? Nein, heißt es wieder. Er erlebe diese Phase seines Lebens bewusst als Möglichkeit um herauszufinden, ob er „anders“ empfindet oder eben möglicherweise auch nicht. „Bin ich gleich homosexuell, wenn ich einen andere Jungen attraktiv finde?“ Wir stellen fest, dass es unter Mädchen viel selbstverständlicher ist, sich zu umarmen, wohingegen eine bloße Berührung unter Jungs schon als „schwul“ geahndet werden kann. Unter Männern sei das Bild von „Männlichkeit“ immer noch sehr eng gestrickt, findet N.: „Eine tiefe Stimme, wenig Emotionen zeigen- das gilt als männlich. Bekommt man als Mann einen Korb, gibt man am besten kund: Egal, ich mag die Kuh eh nicht“.

Sex bindet nicht – Liebe schon

Wir wollen wissen: Wie stellst du dir die Beziehungen zwischen Männern und Frauen in 500 Jahren vor? Was würdest du dir wünschen? Zuerst einmal solle das Zeigen von Emotionen für Männer kein Tabu mehr sein, so N. Auch mache das typische Rollenverhalten immer weniger Sinn und werde sich deshalb in Zukunft immer mehr angleichen. Fähigkeiten auf die es in Zukunft in einer Beziehung immer mehr ankommt, seien hingegen Offenheit, Kreativität und der Mut, Neues zu wagen. Wir fragen nach, was er damit meint? – „offene Beziehungen“? Da wären wir bei der Frage, wie Liebe und Sex zusammenhängen? Liebe und Sex haben „Hingabe“ als gemeinsamen Nenner, erklärt N. . Doch Sex binde nicht. „Liebe“ sei das, was man in einer Liebesbeziehung empfinde oder davor. Ist Liebe also etwas, was ich unabhängig vom Objekt meiner Liebe bereits entwickelt haben muss, bevor ich sie in einer Beziehung erleben kann? Wie ist das dann bei Menschen, die Schwierigkeiten haben sich überhaupt zu verlieben? Woran liegt es, dass sie dieses Gefühl nicht aufbauen können? Wird da aufgrund einer emotionalen Verletzung ein Impuls nicht ans Hirn weitergeleitet? Fehlt die Erinnerung an das Gefühl? Wir wissen es nicht.

Die vielen Wege des ersten Schritts

Wenn das Gefühl da ist, ist klar: der erste Schritt muss getan werden. Dabei liegt es an einem selbst, ihn zu wagen, sagt N.: „Mag der andere einen oder nicht?“. Welche Wege finden Jugendliche heute, um eine Antwort auf diese potentiell zerstörungswütigste aller Fragen zu bekommen? Es stellt sich heraus, dass eine nicht beantwortete Freundschaftsanfrage über WhatsApp weit weniger Verletzungen anrichten kann, als ein „Nein“ ins Gesicht. Es sind keine Emotionen im Spiel, keine Mimik und Körpersprache, erläutert N.. „Was hält dich dann noch davon ab, auf andere zuzugehen?“, fragen wir. Wir stellen fest, dass die Variablen der Kommunikation wie die Körpersprache durch die Kommunikation über digitale Medien zwar reduziert, aber noch nicht gänzlich ausgeschaltet sind. Denn es bleibt immer noch die Frage: „WAS soll ich schreiben?“. N. hält uns vor Augen, dass auf die unverfängliche message „Ich mag deinen style“ im worst case die knappe Antwort „O.k. Danke“ kommen könnte. Ende der Kommunikation.

Ich bin nicht schwul, ich bin lesbisch, kapiert?

Wir halten fest: Die Frage, wie den ersten Schritt machen, ist so unerforscht wie eh und je. Das Risiko erhöht sich nochmal um einiges, wenn Mann/Frau noch herausfinden muss, ob der Andere auf dasselbe Geschlecht steht oder nicht: N. weist uns darauf hin, dass der Style bei bi- oder homosexuellen Jungs nicht als typisch zu erkennen sei und damit aus der Reihe falle. „Alle Hetero-Jungs sehen gleich aus: Sportschuhe von Nike o.Ä., Jeans, Pulli“ und im selben Moment ärgert sich N., dass das so stereotyp klinge. Die Beobachtung ist jedoch nicht von der Hand zu weisen. Er z.B. hätte sich früher gerne farbenfroh angezogen, ließ es aber sein, als vermehrt dumme Sprüche wie „Bist du schwul?“ von anderen Jungs kamen. Sein Selbstbewusstsein habe sich daraufhin zurückgezogen. Wieder Mut habe ihm die Erfahrung gegeben, dass er solchen Kommentaren nicht sprachlos gegenübersteht. Auf eine erneute Konfrontation mit dem dümmsten aller Sprüche konterte er: „Nein, ich bin nicht schwul. Ich bin lesbisch, mach dir mal keine Hoffnung“. Wir lachen und freuen uns mit ihm über diesen kleinen Sieg.

Loslassen, was nicht gut tut

Doch können wir uns auch vorstellen, was für eine Kraft es N. kosten muss, seine Reise so unbeirrt weiter zu verfolgen. Es seien vor allem Blogger und Youtuber wie z.B. Marvin Magnificent und James Charles, die ihm Kraft geben. „Die machen einfach ihr Ding und sind dabei viel lustiger. Heteros nehmen sich oft viel zu ernst und versuchen verkrampft witzig zu sein“. Eine weitere Erfahrung, die er als unterstützend empfindet sei das Loslassen von Freundschaften, die ihm nicht guttun.

Moodverstärker Musik

Zum Abschluss stellen wir unsere Lieblingsfrage: die nach seiner persönlichen Musikempfehlung für Angelegenheiten der Liebe. Ohne lange zu zögern nennt N. die Titel „bruises“ und someone who loved“ für Momente des Liebeskummers. Für das Gefühl von „Ich hab’s‘ geschafft ihn/sie anzusprechen“: „Irgendwas von Lady Gaga“. „Und was würdest du für ein 1. Date auflegen?“. Nach einem kurzen Moment der Stille antwortet N.: „Gar keine Musik“. Ich ziehe innerlich den Hut und freue mich, dass die Kunst der Verführung durch Wahrhaftigkeit auch in der jungen Generation nicht ausgestorben ist.

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